NZZ: Die Schule des Hasses

NZZ - Neue Zürcher Zeitung

Pour les germanophones, je vous mets en ligne un article paru dans le journal Suisse Neue Zürcher Zeitung sur la traduction allemande de Notre-Dame du Nil, ‘Die Heilige Jungfrau vom Nil’ édité par Wunderhorn.

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http://www.nzz.ch/feuilleton/buecher/die-schule-des-hasses-1.18379554

Mutamuriza heisst die eine, zu Deutsch: «Bringt-sie-nicht-zum-Weinen»; Tumurinde, «Schützt-sie», die andere. Die Eltern werden gewusst haben, warum sie den Mädchen diese Namen gaben. Mutamuriza und Tumurinde sind als Angehörige der vormals herrschenden Tutsi-Minderheit im mittlerweile von den Hutu dominierten Rwanda der frühen 1970er Jahre stets vom latenten Rachedurst der Bevölkerungsmehrheit bedroht: Nicht zuletzt deshalb setzt Mutamurizas Mutter alle Hoffnungen auf die Bildung, die ihre Älteste im katholischen Internat der Heiligen Jungfrau vom Nil empfangen soll: «Wenn man eine Schülerin war, dachte sie, dann ist das, als ob man nicht länger eine Hutu oder Tutsi ist, sondern einer anderen ‹Ethnie› angehört, die die Belgier unlängst als ‹hochentwickelt› bezeichneten.»

Zeichen des Gedenkens

Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs vor hundert Jahren dominiert 2014 in unseren Breiten den Erinnerungshorizont. Die Opfer des rwandischen Genozids, der vor 20 Jahren stattfand, blieben dagegen weitgehend im Schatten, obwohl dieser Massenmord ein makabres Gegenstück zum grossen europäischen Sterben darstellt: Während beim Letzteren moderne Kriegstechnologie und erhöhte Mobilität die Effizienz des Tötens förderten, setzte Rwanda seinen erbärmlichen Rekord gerade dadurch, dass die immense Ernte des Todes – 800 000 bis eine Million Opfer binnen drei Monaten – mit primitivsten Mitteln, vorab mit Macheten, eingefahren wurde. Ein Zeichen des Gedenkens setzt der Verlag Das Wunderhorn mit der Übersetzung von Scholastique Mukasongas im Original 2012 erschienenem und mit dem Prix Renaudot ausgezeichnetem Roman «Notre-Dame du Nil», der sich – wie das ganze Schaffen der 1956 in Rwanda geborenen und später ins Exil getriebenen Autorin – mit dem Konflikt in ihrer Heimat auseinandersetzt. Mukasongas Mutter und 26 weitere Angehörige sind dem Genozid von 1994 zum Opfer gefallen.

Bringt-sie-nicht-zum-Weinen. Schützt-sie. Das sind sprechende, allzu sprechende Namen, und im Roman werden die Mädchen – wie alle ihre Mitschülerinnen im Internat – mehrheitlich bei ihren katholischen Taufnamen Veronica und Virginia gerufen. Die doppelte Namengebung, die im Land offenbar Usus war, hat im Kontext des Romans noch eine weitere Signifikanz – denn Mukasonga zeigt immer wieder auf, wie zwanglos die Schülerinnen zwischen ihrer afrikanischen Identität und den im Internat geltenden europäischen Normen hin und her wechseln. Die Mädchen sind begeisterte Kinogängerinnen, balgen sich um Fotos von Johnny Halliday, den Beatles und Brigitte Bardot, himmeln den jungen französischen Lehrer an, dessen blonde Hippie-Lockenpracht den Ordensschwestern der Heiligen Jungfrau vom Nil ebenso, wenn auch aus ganz anderen Gründen, den Atem verschlägt wie den Teenagern. Aber sie vermissen es auch, ihr Bett mit Geschwistern oder zumindest mit der Busenfreundin teilen zu dürfen, sie treffen nach den Ferien mit Koffern voll heimischer Kost ein, die ihre Mütter liebevoll vorgekocht haben, und zanken sich erbittert, welches nun das einzig richtige Rezept für die Zubereitung von Kochbananen ist. Sie halten sich, wie es ihnen immer wieder eingebleut wird, für die Zukunft des Landes, schleichen sich aber bei Bedarf auch zum Hexer und zur Regenmacherin. Und sie nehmen es fraglos hin, dass Pater Herménégilde seine frommen Lehren regelmässig mit wenig christlichen Bekenntnissen zur Dominanz der «Hauptrasse» würzt.

Mukasonga organisiert ihren Roman in Kapitel, die zwar in einen grösseren Handlungsbogen eingespannt sind, aber teilweise fast wie eigenständige Geschichten dastehen. Da mischt sich unter dem Titel «Blut und Schande» die quälende Scham eines Mädchens, dessen erste Menstruation vor versammelter Klasse einsetzt, mit tieferen Ängsten über das Blut, das in ihren Adern fliesst – denn Modesta gilt zwar offiziell als Hutu, aber alle wissen, dass ihre Mutter Tutsi ist. Unter der Hand mottet in der Schule ein Machtkampf zwischen der bulligen Gloriosa, die als Tochter eines Hutu-Parteifunktionärs das Zepter über ihren Mitschülerinnen schwingt, und der energischen Offizierstochter Goretti; dazwischen wetterleuchten die rassistischen Parolen, die das scheussliche Pogrom am Ende des Romans ankündigen. Das belgische Königspaar, das seine einstige Kolonie mit einer Visite beehrt, der zairische Botschafter, dessen liederliches Treiben mit einer Schülerin die Mutter Oberin geflissentlich übersieht, aber auch die bekannte Gorilla-Forscherin Dian Fossey tauchen im nahen oder ferneren Orbit des Geschehens auf. Die von kolonialistischen «Wissenschaftern» entwickelte Theorie, dass die Tutsi nilotischer, die Hutu dagegen schwarzafrikanischer Abkunft seien, wird von einem halbverrückten Plantagenbesitzer auf die Spitze getrieben, der in Veronica eine Verkörperung der ägyptischen Gottheit Isis, in Virginia eine Nachfahrin der nubischen Königinnen sehen will – doch handkehrum verschränkt sich dieser handgezimmerte Mythos mit der spiritistischen Welt der einheimischen Magier.

Ausgeblendete Vorgeschichte

Angesichts der Biografie der Schriftstellerin ist es verständlich, dass sie mit Gloriosa und dem verlogenen Pater Herménégilde zwei durch und durch unsympathische Exponenten des Hutu-Extremismus vorführt, die fernere Vorgeschichte des Konflikts – die Unterdrückung der Hutu durch die Tutsi – hingegen nur schwach beleuchtet. Die Stärke von Mukasongas Roman aber liegt in den differenzierter gezeichneten Figuren: der eigenwilligen Immaculée, die sich der üblen Hetze entzieht, der unseligen, duckmäuserischen Modesta, die sich aus schierer Furcht an Gloriosa schmiegt, der klugen Virginia, die – vielleicht als Einzige unter den Tutsi-Schülerinnen – die «Säuberung» des Internats überlebt. Mit der Wahl ihres Settings und ihrer farbigen Assemblage von Themen hält die Autorin das Gewaltpotenzial des Stoffs über lange Zeit nur unter der Hand am Brodeln, um es am Ende vielleicht etwas forciert in die Katastrophe zu führen. Das sollte einen freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Entsetzliche, das dann losbricht, sein exaktes Vorbild in der Realität hat.

Scholastique Mukasonga: Die heilige Jungfrau vom Nil. Aus dem Französischen von Andreas Jandl. Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg 2014. 179 S., Fr. 34.90.